Fortbildungspunkte: Die Teilnahme ist mit maximal 12 Fortbildungspunkten (für alle drei Tage) von der Psychotherapeutenkammer Berlin zertifiziert. Wenn Sie Fortbildungspunkte wünschen, teilen Sie uns dies bitte schon vor dem Kongress mit.
Die Anerkennung des Ödipuskomplexes scheide „die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern,“ schreibt Sigmund Freud. Er sei der Gipfel der kindlichen Sexualität und stelle später das „wesentliche Stück im Inhalt der Neurose“ dar. „Jedem menschlichen Neuankömmling ist die Aufgabe gestellt, den Ödipuskomplex zu bewältigen“. Beim Neurotiker habe er „nicht die richtige Umwandlung erfahren“. Freud erkennt in diesem Mythos die literarische Wahrheit dessen, was er „in direkter Beobachtung“ bei Knaben und Mädchen und anhand der Erinnerungen Erwachsener feststellen kann.
Seine Aufmerksamkeit gilt dem erblühenden Ödipus-Komplex und den meist misslingenden Überwindungsversuchen, die zum Aufbau einer unpersönlichen, nicht mehr an elterliche Autoritäten gebundenen, Instanz namens Über-Ich führen sollen. Freud selbst arbeitet am Mythos weiter, wenn er die Grammatik der Sexuierung in diesem Drama kompliziert: neben der Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen und der libidinösen Besetzung des andersgeschlechtlichen Elternteils wird das Kind auch so wie das andersgeschlechtliche sein wollen und das gleichgeschlechtliche begehren.
In Erweiterung des Dramas führt Freud – über die Elternkonstellation hinaus – einen „Familienkomplex“ ein, sobald weitere Kinder dazukommen.
Jacques Lacan transformiert den Vater in die väterliche Funktion, die Vatermetapher, den/die Namen des Vaters, den Signifikanten des mütterlichen Begehrens … Auch er sieht im Ödipuskomplex eine entscheidende Struktur der Pazifizierung der Triebökonomie.
Welche Folgen hat oder hätte das Ausbleiben dieses Komplexes (und damit auch dessen Nicht-Überwindung) für die Einzelnen und für kulturelle Gruppierungen? Dieser Frage versuchen wir nicht vom „Ödipus im Spiegel der Presse“ oder „Ödipus in der geisteswissenschaftlichen Literatur“, sondern von der Erfahrung der Psychoanalyse her nachzugehen. Wie modifizieren solch neuen Bedingungen die Grammatiken der Triebe, die Geschlechterdefinitionen, die an eine psychoanalytische Kur gestellten Erwartungen, die bisher gebräuchlichen klinischen Kategorien und die Funktion des Analytikers?
Der im Herbst 2020 in Paris verstorbene Psychoanalytiker Moustapha Safouan (geb. 1921 in Alexandria/Ägypten) war lange Jahre Mitglied von Lacans École Freudienne. Er betont, dass die menschliche Sexualität nicht ein natürliches Triebgeschehen, sondern etwas Strukturiertes ist. Er betrachtet den Ödipuskonflikt als eine historisch bestimmte Form der Eingrenzung des inzestuösen Genießens und hat sich mit dem Wandel des objektiven und der subjektiven Status der Vaterfunktion beschäftigt. Eines seiner ersten Bücher war Studien über Ödipus (Études sur L’Œdipe, 1974) und eines seiner letzten Die postödipale Kultur (La civilisation post-œdipienne, 2018) [beide liegen nicht in deutscher Übersetzung vor].
Dolorès Frau-Frérot und Sylvain Frérot, die den Kongress eröffnen, haben 2018 den Band L’inconscient à demi-mot veröffentlicht, der Gespräche mit M. Safouan und Texte über seine Arbeit enthält.
Auf Deutsch erschienene Texte von Moustapha Safouan
- (1973) Die Struktur in der Psychoanalyse. Beitrag zu einer Theorie des Mangels. In: François Wahl (Hrg.): Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M.: Suhrkamp Wissenschaft. S. 259-321. (Orig. Paris: Seuil 1968)
- (1983) Minimalprinzipien für eine Gesellschaft von Psychoanalytikern, aus: M. Safouan (1983): Jacques Lacan et la question de la formation des analystes, Paris (Seuil), S.87-91 (übers. H.-P. Jäck), erschienen in: Mitgliederbrief Nr. 14 der AFP (Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse e.V.), 21. Juli 1999.
- (1994) [Zwei Vorträge 1992 beim Berliner Kongress ‚Lacan und das Deutsche‘] Eröffnung. (S. 28-34). Und: Gesellschaft und Glauben (S. 133-136) (Übers. J. Prasse/C.-D. Rath). In Jutta Prasse / Claus-Dieter Rath (Hrg.), Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein. Freiburg i. Br.: Kore.
- (1997) Die Übertragung und das Begehren des Analytikers (Übers. G. Schnedermann). Würzburg: Königshausen u. Neumann [Paris: Seuil 1988].
- (2001) Das Spiegelstadium 50 Jahre später (übers. P. Widmer). In RISS. Zeitschrift für Psychoanalyse Freud-Lacan. Heft 51, S. 111-119. [Vortrag 1999 Zürich]
- (2002a) Lacans Rede von Rom – 50 Jahre später (übers. C.-D. Rath). In Jahrbuch für Klinische Psychoanalyse, Bd. 4: Übertragung, Hg. A. Michels, P. Müller, A. Perner, C.-D. Rath. Tübingen: Diskord, S. 80-90. (Orig. 2001 In Figures de la Psychanalyse vol. 5/2, S. 7-15)
- (2002b) Jacques Lacans Seminar ‘Die Übertragung‘ (1960-61) (übers. G. Schnedermann & C.-D. Rath) ebd., S. 91-112 (Orig.: Lacaniana Bd. 1, S. 157-184)
- (2004) Das Begehren und seine Deutung, öffentlicher Vortrag am 3.3. 2002 im Berliner Maison de France (übers. V. von Wroblewsky). Erschienen in Berliner Brief (Hrg. Freud-Lacan-Gesellschaft Berlin) Nr. 6, Februar 2004, S. 3-16