„Die Adoleszenz ist das Barometer des Sozialen“, Donald Winnicott
Wie haben Kinder und Jugendliche die Pandemie und die beiden Lock downs erlebt?
Rita Stockmann, Kinder- und Jugendtherapeutin in Friedrichshagen und an das Esther-Bick-Institut angebunden, erzählte an einem Sonntagmorgen am 3. Oktober 2021 bei einem Mitgliedertreffen von ihren Beobachtungen und Erfahrungen.
Auszüge aus einem Interview mit Rita Stockmann und ihrer Kollegin Ursula Rauch, Berliner Zeitung vom 16. Juli 2021: „Manches ist unwiederbringlich verloren“ (Das Interview führte Stephanie von Hayek)
Inwiefern haben die Probleme der Jugendlichen mit den Einschränkungen der Pandemie zu tun?
STOCKMANN: Zu mir kamen zum Beispiel Jugendliche, für die es sehr schwierig war, weil sie ein Aus- landsjahr geplant hatten. Bei Jugendlichen besteht die Zukunft darin, rauszugehen und sich auf etwas Neues einzulassen. Da ist ein Auslandsjahr etwas besonders Tolles und auch Mutiges. Wenn ich mich von so einem Vorhaben verabschieden muss, kann das zu depressiven Zuständen führen. Es ist schwer, etwas gutes Neues zu finden und nicht im Alten stecken zu bleiben.
Hilft die Therapie ihnen bei der Ablösung?
STOCKMANN: Das ist ein ganz zentraler Punkt bei Jugendlichen: Wie kann ich mich finden und von der Familie lösen? Genüge ich, wenn ich mich löse? Das gilt auch für die, die sehr mit ihrer Familie verbunden sind. Da ist es manchmal besonders schwer. Bin ich auch gut, wenn ich nicht damit rechnen kann, so erfolgreich zu werden wie Mama und Papa?
Mit welchen Problemen kommen die Jugendlichen jetzt?
RAUCH: Es sind vor allem depressive Rückzüge, Ängste, gestiegener Internetkonsum. Viele sind mit den Anforderungen des Home-schooling überfordert. Wenn sie etwa aus Familien kommen, die ihnen aufgrund der Sprache nicht helfen können. Sie entwickeln eine Stress-Symptomatik, die in die Depression führen kann. Andere, die vielleicht in der Klasse Schwierigkeiten haben, empfinden Home-schooling als Entlastung, sich der Außenwelt nicht mehr stellen zu müssen.
STOCKMANN: Nur auf die Dauer wird das zum Problem. Irgendwann leiden sie unter dem Rückzug, versinken in der Abwehr. Für manche wurde es zu Hause sehr eng. Wichtig ist aber noch, in welch anderen Situationen die Jugendlichen sind. Sind sie etwa damit beschäftigt, eine Freundin zu bekommen? Hat jemand sich gerade verliebt oder möchte so gerne? Ist jemand gerade im Aufbruch, will viel Neues unternehmen?
Sie kümmern sich um die Erwachsenen von morgen – was ist für deren Unterstützung besonders wichtig?
STOCKMANN: Zentral ist, dass sie ihre Identität entwickeln und dazu jemanden von außen haben, mit dem sie unabhängig von der Familie ihre Gefühle und Gedanken, Ängste, Trauer äußern können. Irgendwann kommt man immer wieder darauf: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr so bin, wie meine Eltern mich sehen und wie ich mich auch gesehen habe?
RAUCH: Und wer bin ich, wenn ich das alles, was ich mir vorstelle, gerade nicht kann? Die Enttäuschung anzuerkennen, die Größe und Schwere der Aufgabe. Das ist der erste Schritt. Nicht Ratschläge als fürsorgliche Therapeuten-Mutter zu geben, sondern ihnen das Gefühl geben, dir fällt dann schon was ein. Das Spezifische der analytischen Methode ist ja, dass man beobachtet und nicht gleich handelt. Was passiert, wenn die Therapeutin diese Situation mit mir teilt? Das ist Lernen durch Erfahrung. Das läuft natürlich unserer Zeit zuwider.
STOCKMANN: Ein wichtiger Entwicklungsschritt ist, dass man herausfindet, was einen interessiert, etwa welches Schulfach. Zu entscheiden, dafür lerne ich viel, das mag ich. Das andere interessiert mich nicht so. Da stecke ich keine oder wenig Energie hinein. Das hat dann Lebendigkeit. Anstatt zu sagen: Ich muss überall richtig gut sein. Jugendliche müssen herausfinden, welche Vorstellungen ihre Eltern haben und welche dieser Vorstellungen sie verinnerlicht haben, die vielleicht gar nicht zu ihnen gehören.