Jutta Prasse: Sprache und Fremdsprache.
Psychoanalytische Aufsätze
Herausgegeben von Claus-Dieter Rath
Zum_Gedenken_an_Jutta_Prasse
Zum Gedenken an die im Frühsommer 2004 verstorbene Kollegin Jutta Prasse veranstalteten die Freud-Lacan-Gesellschaft und die Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse Anfang Dezember 2004 einen Kongress mit dem Titel „Rücksicht auf Darstellbarkeit. Psychoanalyse in den Medien. Psychoanalyse und Literatur“.
Die Beiträge zu diesem Kongress sind inzwischen als Buch erschienen:
Von Freud und Lacan aus: Literatur, Medien, Übersetzen. Zur „Rücksicht auf Darstellbarkeit“ in der Psychoanalyse.
Hrsg. von Tanja Jankowiak, Karl-Josef Pazzini und Claus-Dieter Rath
Bielefeld, Transcript Verlag, 2006
ISBN 3-89942-466-2
Anfang 2005 erschien ebenfalls im transcript-Verlag eine Sammlung psychoanalytischer Aufsätze von Jutta Prasse:
Sprache und Fremdsprache. Psychoanalytische Aufsätze.
Januar 2005, 210 Seiten, Transcript Verlag
22.80 EUR
ISBN 3-89942-322-4
Aus dem Vorwort von Claus-Dieter Rath:
Bevor Jutta Prasse die Psychoanalyse entdeckte, befaßte sie sich in Freiburg und Wien mit germanistischen und romanistischen Studien und mit der Linguistik.
Mailand und später Paris waren die Orte ihrer psychoanalytischen Ausbildung. Mitte der siebziger Jahre, in einer Zeit des regen Austauschs zwischen vielen jungen Mailänder Analytikern und ihren Lehrern und Kollegen aus Jacques Lacans École Freudienne de Paris begann sie, in der norditalienischen Metropole zu praktizieren. Lacans Lehre, die das Unbewusste in die Sprache einrückt, ermöglichte ihr einen „theoretischen Ansatz der Praxis […], von dem ich mich in meinem bisherigen Interesse und in meiner Lust an Sprachlichem, Sprachtheoretischem betroffen und beunruhigt fühlte“.
In jenen Jahren interessierte sie aber auch, wie Lou Andreas-Salomé und Georg Groddeck sich mit Fragen der Weiblichkeit beschäftigten; sie beteiligte sich an der italienischen Edition einzelner Schriften der beiden. Zudem begann sie, für Verlage als „Autoren-Scout“ tätig zu werden.
Im Frühjahr 1978 wurde Jutta Prasse – anläßlich des Symposiums „Lacan lesen“ – Mitgründerin der Sigmund-Freud-Schule Berlin. Drei Jahre später ließ sie sich in Berlin nieder. Ihre Rückkehr nach Deutschland verband sie mit der Frage: „Konnte ich Lacans Theorie auf Deutsch erfassen, deutsch denken, galten die Begriffe und Denkweisen noch, waren sie noch für mich verbindlich, griffen und ergriffen sie mich noch, wenn sie mühsam ins Deutsche eingeführt, in Freuds Sprache übersetzt wurden, gab es da ein Zurück, konnte ich das Erlernte und Erfahrene heimholen in den Sprachraum der Kindheit?“ Dieses „Heimholen“ praktizierte sie allerdings nicht nur in ihren zahlreichen psychoanalytischen Vorträgen, von denen einige im vorliegenden Band abgedruckt sind, sondern auch in einem Zweitberuf, denn sie schuf sich unter dem Pseudonym Dora Winkler „eine zusätzliche Praxis als Übersetzerin literarischer Texte“, darunter Romane von Fruttero und Lucentini (aus dem Italienischen), von Barbara Pym (aus dem Englischen) und von Irène Némirovsky (aus dem Französischen).
Nach der Auflösung der Sigmund-Freud-Schule war sie Mitgründerin und Präsidentin der Berliner Psychoanalytischen Assoziation „Die Zeit zum Begreifen“ (1988), Mitbegründerin der überregionalen Assoziation für die Freudsche Psychoanalyse (1993) und der Freud-Lacan-Gesellschaft. Psychoanalytische Assoziation Berlin (1998), und sie war Mitglied der Fondation Européenne pour la Psychanalyse (seit 1991).
Ihre etwa 60 psychoanalytischen Veröffentlichungen sind im Anhang aufgeführt. Sie sind in der Mehrzahl Vorträge bei Tagungen psychoanalytischer Organisationen oder von Institutionen, die ein Interesse für die Psychoanalyse zeigten. Erschienen sind sie u.a. in den Zeitschriften „Der Wunderblock“, „Riss“, „Fragmente“, „Arbeitshefte Kinderpsychoanalyse“, „Brief der Assoziation ‚Die Zeit zum Begreifen'“, Brief der Freud-Lacan-Gesellschaft.
Ihr lag an Übermittlung und Lehrbarkeit. Wenn sie etwas begriffen hatte, setzte sie alles daran, es zu veranschaulichen. Und so interessierte sie auch die Darstellung psychoanalytischer Themen in den Massenmedien. Ihr lag nichts daran, ja, sie haßte es sogar, die Unsagbarkeit des Unsagbaren oder des Noch-Nicht-Sagbaren zu vermitteln. (Das galt für Freuds Arithmetik ebenso wie für Lacans Matheme.) Und verrätselnde Ausdrucksweisen – ob Gerede oder Jargon – waren ihr ein Graus. Um so mehr konnte sie demjenigen geduldig zuhören, der versuchte, sich aus solchen Verstrickungen herauszuarbeiten.
Sechs der hier versammelten 14 Texte wollte Jutta Prasse ausdrücklich in einem Buch veröffentlicht wissen: ihre letzten drei, noch unveröffentlichten, Arbeiten: „Das Raubtier“ (James), „Der Sinn der Gattung“ und „Kleine Zutaten“. Hinzu kam ihre in manchen Momenten autobiographische Arbeit „Fremdsprache“, die um Johann Peter Hebels „Kannitverstan“ kreist. Drei ältere Aufsätze erwähnte sie in einem Buchprojekt ihres Berliner Arbeitskreises Literatur und Psychoanalyse, nämlich „Kück“ und Sprung“, „Seldwyla oder Eine ideale Mutter“ und schließlich eine siebte Arbeit – „Die Verkörperung des Rätsels. Zu Kleists Die Marquise von O.“ – die in ihrem Nachlaß allerdings nur als Fragment existiert; als ausformulierte Vorfassung kann eine italienische Publikation zum Thema gelten1.
Die psychoanalytische Autorin Jutta Prasse orientiert sich an Freud und Lacan und kommt doch ohne Fachsprache, ohne Jargon aus. Jedes Kapitel dieses Buches entfaltet anhand eines Stückes Literatur ein Thema aus dem Liebesleben. Henry James, Gottfried Keller oder Charles Dickens sind dabei Bundesgenossen der Psychoanalytikerin bei der Erforschung des weiblichen und männlichen Begehrens, des Mutterideals oder von Sexualität und Wissen, also eines psychoanalytischen Generalthemas, das sie meist im Hinblick auf das uns Menschen eigene radikale Nicht-Wissen-Wollen untersucht.
Da sie den Freudschen Witz liebt, verbindet sie Seriosität und Komik, auch wenn sie Tragisches und – ihr Lieblingsthema – Rührendes behandelt. Sie zeigt, wie wir versuchen, uns im eigenen Leben etwas haltbare Realität zu konstruieren – etwa im Familienroman – und skizziert die Vorgehensweise des Psychoanalytikers, der nicht zu Erzählungen darüber, „wie es wirklich war“, ermuntert, sondern diese eher zerlegt, um sie für das unbewußte Begehren zu öffnen. Doch wie die Erfahrung der Psychoanalyse darstellen? Der Psychoanalyse als Kur und als Forschung, in bezug auf den Einzelnen und in bezug auf die auch nach über 100 Jahren noch kaum bekannten Gebiete und Strukturen? Sie weist auf das von Lacan – und auch von Freud – sogenannte Reale hin, als etwas, das im Gegensatz zu der von uns sinnlich wahrnehmbaren Realität steht: ein sich entziehender, nicht formulierbarer Rest, den man aber mit kulturellen Mitteln einfassen, umschreiben und punktuell erschließen kann.
Für ihre Texte gilt, was Jutta Prasse an den Beiträgen eines von ihr mit herausgegebenen Buches hervorgehoben hat: „fast alle handeln vom Übersetzen. Vom Übersetzen von einer sogenannten natürlichen Sprache in eine andere […], vom Übersetzen zwischen dem Unbewußten und dem, was man zu sagen beabsichtigt, vom Übersetzen dessen, was man nicht sagen kann und will.“2
Anmerkungen
1 Jutta Prasse: „Il padre incubo“, in: COSA FREUDIANA, Bollettino di psicanalisi, Nr. 10/11, Rom 1996, S. 73-82.
2 Jutta Prasse: „Zu diesen Texten“, in: Jutta Prasse/Claus-Dieter Rath (Hg.): Lacan und das Deutsche. Die Rückkehr der Psychoanalyse über den Rhein, Freiburg i. Br. 1994, S. 9-10.